Gendersensibel betrachtet: Krisen, Konflikte und Friedenssicherung



Isabelle Sundermann
Es ist quasi ein altbekannter Automatismus, ein wiederkehrender Reflex, wenn die Rechte von Frauen und anderen marginalisierten Personen in Krisen, Konflikten und Kriegen um ihre Fortgeltung bangen müssen. So ist seit der Coronapandemie global eine besorgniserregende Zunahme an häuslicher Gewalt zu verzeichnen, durch die Eroberung der Taliban ist die Daseinsberechtigung der Rechte von Afghaninnen gänzlich in Frage gestellt worden und die Auswirkungen des Klimawandels treffen schon jetzt diejenigen, die am wenigsten zu dessen Entstehung beigetragen haben. Auch die jüngste militärische Aggression Russlands auf die Ukraine stellt die Bestandskraft der menschenrechtlichen und demokratischen Garantien der Bürger*innen, insbesondere von Frauen, Geflüchteten, ethnischen Minderheiten, queeren, nicht-binären und behinderten Menschen, auf eine harte Probe. Menschenrechtsorganisationen weltweit schauen angespannt auf die Situation, die schon jetzt die Schwelle von einer reinen Gefährdung zur tatsächlichen Schmälerung von fundamentalen Rechten aller Betroffenen übertreten hat.

Auswirkungen von Konfliktsituationen auf Frauenrechte
Extreme Notsituationen, wie etwa Krieg oder Konflikte und Krisen anderer Art, sind stets für alle Betroffenen höchst traumatisch und gefährlich. Dennoch bedingen die verschiedenen Lebenssituationen und Realitäten von Personen unterschiedlichen Geschlechts, Herkunft, sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität jeweils andere Ausprägung und Auswirkungen der Notsituation auf die einzelnen Personen. Wer wir sind und über welche Eigenschaften wir verfügen entscheidet letztlich darüber, welche Folgen der Konflikt- bzw. Krisensituation für uns akuter sind. Einhellig ist dies an den geschlechterspezifischen Effekten von bewaffneten Konflikten zu beobachten.
Neben der allgemeinen (para-)militärischen Gewalt und Gefahr sind Frauen und weiblich gelesene Personen zusätzlich sexualisierter Gewalt, Menschenhandel und Zwangsprostitution ausgeliefert. Diese droht sowohl von den gegnerischen Kombattant*innen als auch von Mitbetroffenen des umkämpften Heimatlandes. Fast ausschließlich sind die Täter*innen dabei männlich. Nicht selten wird systematische Vergewaltigung an Frauen auch als strategisches Kriegs- oder Terrorismusmittel eingesetzt. Ziel ist es dabei, Frauen systematisch zu demütigen und herabzuwürdigen, um so das bestehende soziale Gefüge anzugreifen und aufzuspalten. Um die besondere Gefahr, die durch geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in internationalen Konflikten ausgeht anzuerkennen, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen daher im Jahr 2008 in einer Resolution anerkannt, dass alle Formen der sexualisierten Gewalt den Straftatbestände des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, des Kriegsverbrechens oder sogar auch Völkermord erfüllen können.
Daneben birgt auch der Fluchtweg und das Aufnahmeland Gefahren, da es Personen gibt, die die hilflose Lage von Geflüchteten, insbesondere von Frauen und Kindern ausnutzen wollen. Schon jetzt häufen sich im Zuge der Fluchtbewegung aus der Ukraine in andere europäische Länder, u.a. Deutschland, wegen der jüngsten Invasion Russlands Berichte über unseriöse Angebote von Männern für Schlafgelegenheiten und Unterkünfte. Dazu gehört auch, dass geflüchtete Frauen und junge Mädchen vermehrt fetischisiert werden. So sind die Schlagwörter „Ukrainian Porn“, „Ukrainian Women“ und „Refugee Porn“ bzw. „War Porn“ laut StopFisha die derzeit meist eingegebenen Suchbegriffe auf dem Internetanbieter Pornhub.

Schließlich führt eine Beendigung der Konflikt- bzw. Krisensituation nicht auch automatisch zur Einstellung der sexualisierten und häuslichen Gewalt gegen Frauen. Oft überdauert die gesteigerte Bereitschaft zur Gewalt gegen Frauen den eigentlichen akuten Konflikt und ist nur langsam rückläufig. Grund hierfür sind etwa Traumata der Täter*innen, insbesondere von zurückgekehrten Kombatant*innen und die allgemeine gesteigerte Akzeptanz gegenüber Gewaltausübungen.

Was sind die Gründe dafür?
Die geschlechterspezifischen Auswirkungen von Konflikt- und Krisensituationen sind letztlich auf die verinnerlichten, patriarchalen Denkmuster und Werte sowie auf nach wie vor vorherrschende gesellschaftliche und traditionelle Stereotypen zurückzuführen. Insbesondere die klassischerweise zugeschriebenen Rollen der binären Geschlechter werden in Kriegs- und Konfliktsituationen stark aufgelebt: Frauen werden als schwach und schutzlos angesehen, wodurch sie in eine Opferrolle gedrängt werden. Von Männern wird dagegen Stärke, Dominanz und Kampfbereitschaft erwartet. Hierunter leiden all diejenigen, die diesem stereotypischen, an hegemonialer, toxischer Männlichkeit orientiertem Gesellschaftsbild nicht entsprechen (wollen).
Die Konfrontation mit dem Extremen und dem zumeist Unerwartetem ruft zudem eine Steigerung bereits bestehender Ungleichheiten hervor. Wer schon vor der Konflikt- oder Krisensituation allgemein und strukturell benachteiligt war, muss also um eine Verschärfung dieser Benachteiligung fürchten. Dies kann auch im aktuellen Krieg in der Ukraine beobachtet werden: Rassismus seitens anderer ukrainischer Geflüchteter oder Grenzbeamter hinderte etwa schwarze Menschen daran, mittels organisierten Fluchttransporten das Land zu verlassen. Auch Transfrauen wurde die Flucht aus der Ukraine verwehrt, da ihre geschlechtliche Identitäten als Frauen durch die Behörden nicht anerkannt werden und sie somit aufgrund ihres bei der Geburt zugeschriebenem männlichen, biologischen Geschlechts unter die ukrainische Wehrpflicht fallen. Das Vorliegen mehrfacher Diskriminierungsmerkmale (= Intersektionalität) steigert zudem auch und gerade in Konflikten und Krisen die Gefahr struktureller Benachteiligung.

Frauen in Friedenssicherung und Konfliktbewältigung
Die strukturelle Benachteiligung von Frauen und die vorherrschenden patriarchalen Denkmuster begrenzen Frauen auf eine Opferrolle und hindern diese effektiv an Konfliktbewältigungen, Friedensverhandlungen und Friedensprävention auf Entscheidungsebene teilzunehmen. Dabei ist der Zusammenhang zwischen der aktiven Beteiligung von Frauen und der Resilienz von Friedensübereinkünften und -maßnahmen längst bewiesen. Dies liegt nicht etwa daran, dass Frauen von Natur aus Friedensmissionarinnen wären, während Männer naturgegeben aggressiv und kampffreudig sind. Vielmehr ist dies ein Produkt der Art und Weise, wie die verschiedenen Geschlechter sozialisiert werden und welche Erwartungen an ihre Geschlechterrolle in unseren Gesellschaften gestellt werden. In Anerkenntnis der positiven Wirkung der Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen und Sicherheitspolitik wurde auch die „Frauen, Frieden und Sicherheit“ Resolution der Vereinten Nationen verabschiedet, die sich für eine angemessene Beteiligung von Frauen und die Berücksichtigung der geschlechterspezifischen Bedürfnisse ausspricht.
Auf diesem Gedanken beruht auch der Ansatz der feministischen Außenpolitik, zu dem sich die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag im November 2021 bekannt hat. Feministische Außenpolitik integriert eine Geschlechtersichtweise, sie analysiert also die verschiedenen Auswirkungen von Außen- und Sicherheitspolitik geschlechterspezifisch und setzt sich verstärkt für die bislang vernachlässigten Bedürfnisse von Frauen und Geschlechter jenseits der binären Kategorien ein. Ihr liegt damit auch ein humanistischer, individualisierter Ausgangspunkt zugrunde. Das Mittel: Die allgemeine Förderung der Menschenrechte und die Diversifizierung der Außenpolitik, etwa personell durch die Besetzung von Ämtern durch Frauen und marginalisierte Personen, sowie auch inhaltlich in Hinsicht auf die Agenda von internationalen Verhandlungen und Beziehungen. Immer mit dem Ziel die Widerstandskraft und Beständigkeit des Friedens zu sichern.