Gendersensible Medizin
Lorena Wierschem
Dass unser biologisches Geschlecht eine Rolle für unsere Gesundheit spielt, wissen Mediziner:innen schon lange. Männer haben eine geringere Lebenserwartung als Frauen. Frauen dagegen einen höheren Fettanteil und weniger Muskelmasse als Männer sowie kleinere Organe, eine Gebärmutter, andere Sexualhormone und einen anderen Stoffwechsel. Das alles führt dazu, dass Männer und Frauen unterschiedlich erkranken, genesen und auf Medikamente reagieren.
Die Gender Medizin oder auch gendersensible Medizin macht auf diese Unterschiede zwischen Frau und Mann aufmerksam und berücksichtigt das biologische Geschlecht in medizinischer Forschung und Behandlung. In ganz Deutschland gibt es bislang nur ein Institut für Geschlechterforschung an der Berliner Charité.
Der Gender Data Gap
Forschung und Lehre orientieren sich seit jeher nahezu ausschließlich am männlichen Körper. Oder vielmehr gibt es in der Medizin eine „Norm“, die viele männliche Züge trägt. Das fehlende Verständnis für eine medizinische Differenzierung aufgrund des Geschlechts führt dazu, dass es wissenschaftlichen Studien oft nicht zu entnehmen ist, ob sie zwischen weiblichen und männlichen Zellen unterscheiden.
Lange Zeit wurden Frauen bewusst aus Studien ausgeschlossen, da ihre hormonellen Schwankungen die Ergebnisse beeinflussen würden und Nebenwirkungen besonders gefährlich für Schwangerschaften sein können. Stattdessen wurden die Ergebnisse der Studien einfach auf Frauen übertragen. Erst seit den 1990ern treten Frauen wieder vermehrt als Studienprobandinnen an. Durch diese Entwicklungen ist ein Defizit von wissenschaftlichen Daten in der Medizin entstanden, das so schnell nicht geschlossen werden kann – der sogenannte Gender Data Gap. Also viel mehr evidente Daten und Belege für die medizinische Behandlung von Männern als von Frauen.
Dabei kann eine gendersensible Diagnostik Leben retten. Ein oft genanntes Beispiel ist etwa der Herzinfarkt, eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland: Hier haben Männer und Frauen stark auseinanderfallende Symptome. Männer klagen häufiger über Schmerzen in der Brust und im rechten Arm, während Frauen häufiger unter Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Hals und Nacken, Schwindel und Übelkeit leiden. Diese Unterschiede führen bei betroffenen Frauen zu Fehldiagnosen und falscher oder fehlender Behandlung. Auch bei einer Coviderkrankung lassen sich Unterschiede feststellen: Studien kommen zu dem Schluss, dass Männer häufiger einen schweren Krankheitsverlauf erleiden und mehr Männer an Covid sterben, während mehr Frauen Long Covid Symptome entwickeln.
Frauen haben mehr Nebenwirkungen bei Medikamenteneinnahme
Der Gender Data Gap in der Medizin führt dazu, dass Männer und Frauen in der Praxis bei derselben Diagnostik auch dieselbe Menge an Medikamenten erhalten. Und das, obwohl Studien belegen, dass auch Medikamente bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken und die Dosierungen für Frauen häufig zu stark ist. Das kann neben Gewicht und Körperfettanteil auch Hormonhaushalt und Enzymen liegen, die Medikamente anders abbauen.
Ein Grund für die geringe Zahl an Medikamentenstudien unter Einbezug von Frauen ist der sogenannte Contergan-Skandal. In den 1960ern wurden dabei vermehrt Kinder mit Fehlbildungen an Armen und Beinen geboren, ausgelöst durch die Einnahme von dem scheinbar harmlosen Schlafmittel Contergan während der Schwangerschaft. Daraufhin scheuten sich Pharmahersteller:innen Frauen in medizinische Studien aufzunehmen.
Seit den 1990ern ist es häufig so, dass in Phase I der Medikamententestung in der Regel nur Männer teilnehmen und Frauen erst in späteren Phasen und unter engen Kriterien miteinbezogen werden. Das hat den Hintergrund, dass der Einfluss auf die Fruchtbarkeit durch ein Medikament bei Frauen mit ihren limitierten Zahl an Eizellen weitreichender sein kann als bei Männern, die stets neue Spermien produzieren. Außerdem hofft man so die Auswirkungen von hormonellen Schwankungen durch den weiblichen Zyklus besser differenziert zu können.
Geschlechterspezifische Krankheiten
Wie ungleich die Medizin Frauen und Männer behandelt, erkennt man auch daran, wie geschlechterspezifische Krankheiten behandelt werden. Sie sind zum Beispiel weniger gut erforscht oder in der breiten Öffentlichkeit weniger geläufig wie zum Beispiel Endometriose (Gewebe, dass Zysten und Entzündungen häufig an der Gebärmutter entstehen lässt) oder Fatigue (chronisches Müdigkeitssyndrom).
Eine chronische Übertherapie von Frauen im Bereich Psychotherapie, was mit dem Stigma der hysterischen Frau und dem Ursprung der Hysterie nach Freud zu tun hat.
Oder wie es zahlreiche Anti-Baby-Pillen, trotz zahlreicher Nebenwirkungen an die Frau schaffen, während vergleichbare Verhütungsmittel für Männer wegen ihrer Vielzahl an Nebenwirkungen keine Zulassung erhalten.
Gesundheit und Rollenbilder
Übrigens hat nicht nur das biologische Geschlecht einen Einfluss auf unsere Gesundheit. Auch unsere Genderidentität, also unser soziologisches Geschlecht und die damit verbundenen Rollenbilder beeinflussen, wie gesund wir sind. So warten Frauen länger auf einen Arzttermin, während vor allem junge Männer häufig gar nicht erst eine Arztpraxis aufsuchen. Sind sie erst einmal in Behandlung, erzählen Frauen ausführlicher unter welchen Symptomen sie leiden.
Gesellschaftliche Rollenbilder führen auch häufiger dazu, dass bei der Diagnostik von Frauen in Behandlung eher vermutet wird, dass sie unter psychosomatische Schmerzen leiden, als bei Männern.
Zuletzt haben auch diese Rollenbilder einen Einfluss darauf, dass Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer. Sie pflegen häufiger einen ungesunden Lebensstil, ernähren sich ungesünder, verrichten mehr körperliche Arbeit und sind risikobereiter, etwa im Straßenverkehr.
Einige Studien legen nahe, dass männliche Hormone wie etwa Testosteron das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen. Eine Studie an koreanischen Eunuchen untersuchte, dass die Teilnehmer infolge ihrer Kastration als Kind und der dadurch gestoppten Produktion von männlichen Hormonen 14 bis 19 Jahre länger leben als andere Männer mit vergleichbaren sozioökologischen Status. In Industriestaaten gleicht sich die Sterblichkeit von Männern und Frauen jedoch durch die sich annähernden Lebensbedingungen immer weiter an.
Gender Medizin für mehr Gleichberechtigung
Von einem gendersensiblen Ansatz in der Medizin würden beide biologischen Geschlechtern in der Praxis profitieren, glauben Verfechter. Deshalb regiert auch die Politik: eine neue EU-Richtlinie sieht vor, dass die Geschlechterverteilung in klinischen Studien sich nach der zu behandelnden Subgruppe in der Bevölkerung richten muss. Das soll dazu führen, dass Medikamente für Frauen vor allem an Frauen getestet werden.
Außerdem gibt es längst Bestrebungen von Ärzteverbänden und Expert:innen die Approbationsordnung für das Medizinstudium anzupassen und so für mehr Gendersensibilität in der Ausbildung zu sorgen. Das führte so weit, dass die Ampelkoalition eine Reform der Approbationsordnung sogar in den Koalitionsvertrag aufgenommen hat: "Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden."
Die Gender Medizin oder auch gendersensible Medizin macht auf diese Unterschiede zwischen Frau und Mann aufmerksam und berücksichtigt das biologische Geschlecht in medizinischer Forschung und Behandlung. In ganz Deutschland gibt es bislang nur ein Institut für Geschlechterforschung an der Berliner Charité.
Der Gender Data Gap
Forschung und Lehre orientieren sich seit jeher nahezu ausschließlich am männlichen Körper. Oder vielmehr gibt es in der Medizin eine „Norm“, die viele männliche Züge trägt. Das fehlende Verständnis für eine medizinische Differenzierung aufgrund des Geschlechts führt dazu, dass es wissenschaftlichen Studien oft nicht zu entnehmen ist, ob sie zwischen weiblichen und männlichen Zellen unterscheiden.
Lange Zeit wurden Frauen bewusst aus Studien ausgeschlossen, da ihre hormonellen Schwankungen die Ergebnisse beeinflussen würden und Nebenwirkungen besonders gefährlich für Schwangerschaften sein können. Stattdessen wurden die Ergebnisse der Studien einfach auf Frauen übertragen. Erst seit den 1990ern treten Frauen wieder vermehrt als Studienprobandinnen an. Durch diese Entwicklungen ist ein Defizit von wissenschaftlichen Daten in der Medizin entstanden, das so schnell nicht geschlossen werden kann – der sogenannte Gender Data Gap. Also viel mehr evidente Daten und Belege für die medizinische Behandlung von Männern als von Frauen.
Dabei kann eine gendersensible Diagnostik Leben retten. Ein oft genanntes Beispiel ist etwa der Herzinfarkt, eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland: Hier haben Männer und Frauen stark auseinanderfallende Symptome. Männer klagen häufiger über Schmerzen in der Brust und im rechten Arm, während Frauen häufiger unter Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Hals und Nacken, Schwindel und Übelkeit leiden. Diese Unterschiede führen bei betroffenen Frauen zu Fehldiagnosen und falscher oder fehlender Behandlung. Auch bei einer Coviderkrankung lassen sich Unterschiede feststellen: Studien kommen zu dem Schluss, dass Männer häufiger einen schweren Krankheitsverlauf erleiden und mehr Männer an Covid sterben, während mehr Frauen Long Covid Symptome entwickeln.
Frauen haben mehr Nebenwirkungen bei Medikamenteneinnahme
Der Gender Data Gap in der Medizin führt dazu, dass Männer und Frauen in der Praxis bei derselben Diagnostik auch dieselbe Menge an Medikamenten erhalten. Und das, obwohl Studien belegen, dass auch Medikamente bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken und die Dosierungen für Frauen häufig zu stark ist. Das kann neben Gewicht und Körperfettanteil auch Hormonhaushalt und Enzymen liegen, die Medikamente anders abbauen.
Ein Grund für die geringe Zahl an Medikamentenstudien unter Einbezug von Frauen ist der sogenannte Contergan-Skandal. In den 1960ern wurden dabei vermehrt Kinder mit Fehlbildungen an Armen und Beinen geboren, ausgelöst durch die Einnahme von dem scheinbar harmlosen Schlafmittel Contergan während der Schwangerschaft. Daraufhin scheuten sich Pharmahersteller:innen Frauen in medizinische Studien aufzunehmen.
Seit den 1990ern ist es häufig so, dass in Phase I der Medikamententestung in der Regel nur Männer teilnehmen und Frauen erst in späteren Phasen und unter engen Kriterien miteinbezogen werden. Das hat den Hintergrund, dass der Einfluss auf die Fruchtbarkeit durch ein Medikament bei Frauen mit ihren limitierten Zahl an Eizellen weitreichender sein kann als bei Männern, die stets neue Spermien produzieren. Außerdem hofft man so die Auswirkungen von hormonellen Schwankungen durch den weiblichen Zyklus besser differenziert zu können.
Geschlechterspezifische Krankheiten
Wie ungleich die Medizin Frauen und Männer behandelt, erkennt man auch daran, wie geschlechterspezifische Krankheiten behandelt werden. Sie sind zum Beispiel weniger gut erforscht oder in der breiten Öffentlichkeit weniger geläufig wie zum Beispiel Endometriose (Gewebe, dass Zysten und Entzündungen häufig an der Gebärmutter entstehen lässt) oder Fatigue (chronisches Müdigkeitssyndrom).
Eine chronische Übertherapie von Frauen im Bereich Psychotherapie, was mit dem Stigma der hysterischen Frau und dem Ursprung der Hysterie nach Freud zu tun hat.
Oder wie es zahlreiche Anti-Baby-Pillen, trotz zahlreicher Nebenwirkungen an die Frau schaffen, während vergleichbare Verhütungsmittel für Männer wegen ihrer Vielzahl an Nebenwirkungen keine Zulassung erhalten.
Gesundheit und Rollenbilder
Übrigens hat nicht nur das biologische Geschlecht einen Einfluss auf unsere Gesundheit. Auch unsere Genderidentität, also unser soziologisches Geschlecht und die damit verbundenen Rollenbilder beeinflussen, wie gesund wir sind. So warten Frauen länger auf einen Arzttermin, während vor allem junge Männer häufig gar nicht erst eine Arztpraxis aufsuchen. Sind sie erst einmal in Behandlung, erzählen Frauen ausführlicher unter welchen Symptomen sie leiden.
Gesellschaftliche Rollenbilder führen auch häufiger dazu, dass bei der Diagnostik von Frauen in Behandlung eher vermutet wird, dass sie unter psychosomatische Schmerzen leiden, als bei Männern.
Zuletzt haben auch diese Rollenbilder einen Einfluss darauf, dass Frauen eine höhere Lebenserwartung haben als Männer. Sie pflegen häufiger einen ungesunden Lebensstil, ernähren sich ungesünder, verrichten mehr körperliche Arbeit und sind risikobereiter, etwa im Straßenverkehr.
Einige Studien legen nahe, dass männliche Hormone wie etwa Testosteron das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen. Eine Studie an koreanischen Eunuchen untersuchte, dass die Teilnehmer infolge ihrer Kastration als Kind und der dadurch gestoppten Produktion von männlichen Hormonen 14 bis 19 Jahre länger leben als andere Männer mit vergleichbaren sozioökologischen Status. In Industriestaaten gleicht sich die Sterblichkeit von Männern und Frauen jedoch durch die sich annähernden Lebensbedingungen immer weiter an.
Gender Medizin für mehr Gleichberechtigung
Von einem gendersensiblen Ansatz in der Medizin würden beide biologischen Geschlechtern in der Praxis profitieren, glauben Verfechter. Deshalb regiert auch die Politik: eine neue EU-Richtlinie sieht vor, dass die Geschlechterverteilung in klinischen Studien sich nach der zu behandelnden Subgruppe in der Bevölkerung richten muss. Das soll dazu führen, dass Medikamente für Frauen vor allem an Frauen getestet werden.
Außerdem gibt es längst Bestrebungen von Ärzteverbänden und Expert:innen die Approbationsordnung für das Medizinstudium anzupassen und so für mehr Gendersensibilität in der Ausbildung zu sorgen. Das führte so weit, dass die Ampelkoalition eine Reform der Approbationsordnung sogar in den Koalitionsvertrag aufgenommen hat: "Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden."